Kapitel 6Zigeunerromantik – Faszination und Verachtung
In der Romantik wird die jahrhundertelang an den Rand gedrängte Minderheit der Roma zum faszinierenden Gegenbild der eigenen Gesellschaft: Die »Zigeuner« stehen für Freiheit, Arbeit ohne Zwang, ein umherschweifendes Leben unter freiem Himmel, eine freizügige Sexualität, künstlerische Kreativität und eine überschäumende Lebenslust, die in Musik und Tanz ihren Ausdruck findet.
Die Romantik bewirkt den größten und nachhaltigsten Schub der Ästhetisierung undMedialisierung der Roma. Sie liefert in nahezu allen europäischen Kulturen eine Unzahl von Geschichten und Bildern einer archaischen, freien und manchmal gefährlichen und bedrohlichen Gruppe an den Rändern und in den Nischen der modernen Disziplinargesellschaft.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts werden »Zigeuner« zum populären Gegenstand der Unterhaltung – in Literatur, Malerei und Musiktheater, später in Fotografie und Kino. Faszination und Verachtung stehen dabei widerspruchslos nebeneinander. (Werner Michael Schwarz/Susanne Winkler)
Inhaltlicher Schwerpunkt / Vermittlungsansatz
Achtung, Klischee!
Im Zeitalter der Romantik propagierte man im Sinne der Philosophie von Jean Jaques Rosseau, welche die etablierte Gesellschaft kritisierte, und den naturnahen, menschenwürdigeren Zustand propagierte, das Motto »Zurück zur Natur!«. Nun wurden der westlichen Zivilisation die Werte der Naturvölker als die urtümlicheren und wahreren entgegensetzt, und diese Eigenschaften auch in der Lebensweise der Roma und Sinti entdeckt. Sie wurden nun wie die sogenannten »edlen Wilden« der Natur- und Inselvölker zu einer Gegenwelt zur bürgerlichen Industriegesellschaft mit ihren festgefahrenen Alltags- und Arbeitsstrukturen stilisiert, wobei ihnen Eigenschaften angedichtet wurden, die ihnen bis heute als ganz bestimmte Klischees anhaften. Diese »Erfindungen« und die damit einhergehende Verklärung trugen auch dazu bei, dass sie verstärkt als anders empfunden wurden. Die in Literatur, Musik und Malerei erfundenen Geschichten kreierten ein Bild von verfestigten Stereotypen, oft fern jeder Realität. In späteren politischen Systemen, wie dem Nationalsozialismus wurden diese falschen Fremdwahrnehmungen mit ihren zugeschriebenen Identitäten dann als angeborene, genetische Tatsachen definiert, und wurden in Folge zur Grundlage von Entrechtung, Verfolgung und Völkermord des zur »zivilisationsunfähigen« Rasse erklärten und zur totalen Vernichtung freigegebenen Volkes der Roma und Sinti.
Anhand von Gedichtinterpretation und vergleichenden Bild- und Textanalysen werden vor allem die großen Unterschiede von Fremd- und Selbstdarstellungen herausgearbeitet und die Gefahren davon thematisiert.
Literatur / zur Vorbereitung für die Lehrpersonen:
- Klaus M. Bogdal »Die Erfindung der »Zigeuner«